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"Grimms Märchen"


Buchclub 65

Name der Rose 'Schneewittchen'
Name der Rose 'Goldmarie'








Als Erbe aus längst vergangenen Zeiten sind sie uns überliefert, diese Märchen von Hänsel und Gretel, Schneewittchen, von Rotkäppchen und dem Rumpelstilzchen. Durch die Jahrhunderte wurden sie von Generation zu Generation weitergegeben, erzählt in den Spinnstuben und am abendlichen Herd. Die Brüder Grimm haben sie den Erzählern abgelauscht, haben sie zusammengetragen und mehr als zweihundert von ihnen sorgsam aufgezeichnet. Die vorliegende Ausgabe hat diese Märchen sämtlich in einem Band vereinigt. Befreit von entstellenden Änderungen und gereinigt von verfälschenden Zusätzen, sollen sie hier in ihren Originalfassungen wiedererstehen als ehrwürdige Zeugnisse der großen schöpferischen Kräfte unseres Volkes.

JACOB GRIMM 1785-1863

Begründer der Germanistik als Literatur- und Sprachwissenschaft. Große Verdienste bei der Erforschung deutscher Märchen, Sagen, altdeutscher Dichtung, der Mythologie, der Rechtsaltertümer und Volkspoesie.
1802 Jurastudium in Marburg
1808 Königlicher Bibliothekar im Lande Westfalen
1829 Prof. für deutsche Altertumswissenschaft in Göttingen
1837 gehörte er mit seinem Bruder Wilhelm zu den "Göttinger Sieben", die gegen den Verfassungsbruch des Königs protestierten
1841 Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Prof. in Berlin

WILHELM GRIMM 1786-1859

Mitbegründer der Germanistik, wesentlich von der deutschen Romantik beeinflußt. Herausgeber zahlreicher mittelhochdeutscher Dichtungen. Gemeinsame Studien mit seinem Bruder Jacob.
1812/15 Herausgabe der "Kinder- und Hausmärchen"
1830 Bibliothekar in Göttingen
1831 Prof. in Göttingen
1841 Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin
1852 ff. Krönung der Lebensarbeit beider Brüder: Herausgabe der ersten Bände eines Deutschen Wörterbuches

Vorwort (zur Buchclub 65 -Ausgabe)

Ein halbes Jahrhundert lang haben die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm an ihrer Sammlung der deutschen "Kinder und Hausmärchen" gearbeitet; der erste, noch schmale Band kam gegen Ende des Jahres 1812 heraus, die zweibändige Ausgabe letzter Hand erschien 1857. Was in diesen fünf Jahrzehnten in hingebungsvoller wissenschaftlich-künstlerischer Kleinarbeit entstand, wurde wie kaum etwas anderes zu einem deutschen Volksbuch: erwachsen aus der uralten Tradition der schöpferischen Volksphantasie, zu rechter Zeit aus dem damals fast versiegenden Born mündlich überlieferter Poesie geschöpft und als gewichtiges Bildungsgut der Nation in einer gültigen Form aufbewahrt.
Das Märchen in seiner ursprünglichen Gestalt gehört sehr wahrscheinlich zu den ältesten Literaturgattungen, wenn nicht gar zu den ersten Formen künstlerischen Ausdrucks überhaupt. Es reicht in seinen Anfängen weit in die Periode der Urgesellschaft zurück und spiegelt die frühesten Auseinandersetzungen des Menschen mit der ihn umgebenden "feindlichen" und "freundlichen" Natur. "Sie sind gewissermaßen Resultat des Volksglaubens", schrieb Johann Gottfried Herder 1777, "seiner sinnlichen Anschauung, Kräfte und Triebe, wo man träumt, weil man nicht weiß, glaubt, weil man nicht siehet, und mit der ganzen, unzerteilten und ungebildeten Seele würket; also ein großer Gegenstand für den Geschichtschreiber der Menschheit, den Poeten und Poetiker und Philosophen." In der Zeit der Klassengesellschaft verändern sich die alten Märdienformen, und neue Motive treten hinzu. Jahrhundertelang wird das Märchen nun zur wichtigsten literarischen Ausdrucksmöglichkeit des unterdrückten Volkes, besonders auf dem Lande. Daher lassen sich in der meist sehr handfesten Märchenethik, die immer wieder auf dem Gegensatz von gut und böse aufbaut und häufig genug Recht und Unrecht dafür einsetzt, selbst im phantastischen Gewand der Zauberei und des Wunders gesellschaftskritische und demokratische Züge erkennen (vgl. besonders Nr. 138, 162, 167 und 187).

Das Interesse der "Gebildeten" am literarischen Volksgut, speziell am Lied und am Märchen, erwachte in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung. Zwar spottete noch Gottsched in seiner "Kritischen Dichtkunst", daß man die Märchen "kaum Kindern ohne Lachen" erzählen könne. Doch schon wenige Jahrzehnte später wies Herder mit warmherzigem Verständnis auf die Bedeutung der Volkspoesie hin und setzte sich für originalgetreue Aufzeichnungen ein. Mit seinen "Volksliedern" (1778/79) gab er selbst ein praktisches Beispiel, das aber vorerst ein rühmlicher Einzelfall bleiben sollte. Denn die "Volksmärchen der Deutschen", die Johann Karl August Musäus von 1782 bis 1787 herausgab, knüpften zwar an volkstümliche Märchen- und Sagenmotive an, waren aber wesentlich freie novellistische Ausgestaltungen, die den Eigenwert der Volksdichtung nicht respektierten. Ebensowenig vermochten Ludwig Tiecks "Volksmärchen von Peter Leberecht" (1797) Herders Vorstellungen zu befriedigen, die er 1801 in einem Aufsatz der "Adrastea" noch einmal umriß: "Eine reine Sammlung von Kindermärchen in richtiger Tendenz für den Geist und das Herz der Kinder, mit allem Reichtum zauberischer Weltszenen sowie mit der ganzen Unschuld einer Jugendseele begabt, wäre ein Weihnachtsgeschenk künftiger Generationen."
Fast buchstäblich erfüllte sich dieser Wunsch nach Herders Tod, als die Brüder Grimm im Dezember 1812 den ersten Teil ihrer "Kinder- und Hausmärchen" veröffentlichten. Das Werk stand von vornherein nicht nur im Zeichen einer großartigen philologisch-volkskundlichen Sammlung, sondern unter dem Aspekt einer aktuellen nationalpädagogischen Aufgabe. Der erste Band erschien am Vorabend der Befreiungskriege, und mit gutem Grund durfte Jacob Grimm in seinem Handexemplar hinter das Datum der Vorrede (18. Oktober 1812) schreiben: "Gerade ein Jahr vor der Leipziger Schlacht." Tatsächlich leisteten die Grimms mit ihrer Sammeltätigkeit einen entscheidenden Beitrag zur geistigen Vorbereitung der Freiheitsbewegung von 1813; die Märchen wurden als Zeugnis der Schöpferkraft des Volkes verstanden, und sie stärkten in der Zeit der Napoleonischen Fremdherrschaft das nationale Selbstbewußtsein. Jacob und Wilhelm Grimm waren sich dieses Zusammenhangs zwischen ihren "altdeutschen" Studien und den Forderungen des Tages wohl bewußt. "Wer die Geschichte durchforscht", sagte Jacob Grimm einmal, "muß die Poesie als einen der mächtigsten Hebel zur Erhöhung des Menschengeschlechts, ja, als wesentliches Erfordernis für dessen Aufschwung anerkennen" - ein Wort, das auch die Volkspoesie und gerade die Märchen charakterisiert. Freilich legitimiert auch die spätere politische Haltung der beiden Grimms die patriotische Tendenz ihrer Sammlung. Sie erwiesen sich 1837 in der Gruppe der "Göttinger Sieben" als aufrechte Verteidiger von Fortschritt und Freiheit; sie protestierten energisch gegen den Verfassungsbruch des hannoverschen Königs Ernst August und nahmen ihre Amtsenthebung und - das gilt für Jacob Grimm - die Landesverweisung standhaft hin.

Während Jacob Grimm bis zu seinem Tode das sympathische Profil des Liberalen wahrte - er gehörte 1848 zur deutschen Nationalversammlung in Frankfurt -, zeigte sich sein Bruder Wilhelm von Anfang an anfälliger für regressive Tendenzen, die sich gelegentlich auch in den "Kinder- und Hausmärchen" dokumentieren. Die Sammlung war zunächst eine Gemeinschaftsarbeit gewesen, jedoch hatte Wilhelm später mehr und mehr die Niederschrift der Märchen und die Bearbeitung der folgenden Auflagen übernommen (während sich Jacob anderen wissenschaftlichen Arbeiten zuwandte, unter anderem dem "Deutschen Wörterbuch"). Dabei ließ Wilhelm Grimm in die späteren Fassungen gelegentlich moralisierend-religiöse Wendungen einfließen, die den noch unformulierten Originalaufzeichnungen oder selbst den ersten Auflagen fremd sind. Auch manche freimütige Äußerung der Märchenhelden hat Wilhelm Grimm als "zu demokratisch" ausgemerzt. So weisen die "Kinder- und Hausmärchen" bei aller sonst geübten Selbstbescheidung der Herausgeber hier und da Merkmale der gesellschaftsgeschichtlichen Position der deutschen Intelligenz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf.
Dennoch bleibt die Sammlung ein bedeutsames kulturhistorisches Verdienst der Brüder Grimm und - was die sprachliche Gestalt betrifft - auch eine überragende Leistung Wilhelms. Die Märchen existierten bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nur in mündlicher Tradition, und die Kunst des Märchenerzählens - meist wurde sie von Frauen geübt - erbte sich von Generation zu Generation fort. Obwohl die möglichst wortgetreue Wiedergabe des überlieferten ein ungeschriebenes Gesetz war, schliffen sich die Formen ab und wandelten sich die Motive. So stießen die Grimms bei ihren "Märchenfrauen" auf zahlreiche Varianten, aus denen sie erst allmählich den ursprünglichen und spezifischen Kern herausschälen konnten. Vor allem aber mußten die Aufzeichnungen sprachlich durchgeformt werden, und dabei hat Wilhelm Grimm zweifellos einen fast "klassisch" zu nennenden Volkston getroffen.

Schon die Zeitgenossen gaben freilich zu bedenken, daß die Originaltreue, die die Brüder weitgehend anstrebten, bei den meisten Märchen durch ihre hochsprachliche Fassung verletzt würde. Indes liegt eingestandenermaßen auch hier eine geradezu kulturpolitische Intention der Herausgeber zugrunde, die die einheitliche Hochsprache als ein integrierendes nationales Element betrachteten.
So sind Grimms Märchen zum Hausbuch und zum ersten Bildungserlebnis vieler Generationen geworden, und noch im letzten halben Jahrhundert erschienen im In- und Ausland weit über tausend Ausgaben, ein sicheres Zeichen, daß die Gestalten des Rotkäppchens, des Däumlings, des Hans im Glück, des Schneewittchens, des Aschenputtels bis heute lebendig blieben. Gewiß, viele dieser Märchen preisen treuherzige Demut und religiöse Ergebenheit und schildern manche Grausamkeit - Merkmale ihrer komplizierten und langen Entwicklungsgeschichte. Aber wesentlich bleibt doch die elementare Entscheidung, die hier durchweg zugunsten des Rechtes und des Guten gefällt wird. Deshalb gilt noch immer, was Johann Gottfried Herder vor hundertsechzig Jahren ausgesprochen hat: "Hat auch das Märchen seine Regel? Übel, wenn es solche nicht hätte, da bei seiner tiefen Einwirkung auf die Seele des Menschen, bei seinem noch tiefern Grunde in unserer Natur es ein ungeheures Mittel zur Bildung oder Mißbildung menschlicher Gemüter sein kann."

Die vorliegende Ausgabe erhebt nicht den Anspruch einer kritisch-wissenschaftlichen Edition. Sie vereinigt die beiden Bände der letzten von den Herausgebern gebilligten Fassung, die im Rahmen der "Großen Ausgabe" in siebenter Auflage 1857 bei Dieterich in Göttingen erschien. Die Reihenfolge der, vollständig wiedergegebenen, Märchen blieb unangetastet; ausgeschieden wurden lediglich die am Schluß des zweiten Bandes abgedruckten "Kinderlegenden", deren christliche Lehrhaftigkeit nicht zum Charakter der Sammlung paßt. Orthographie und Interpunktion wurden prinzipiell modernisiert, grammatische und lautliche Eigentümlichkeiten blieben jedoch - soweit sinnvoll - erhalten; gelegentliche offensichtliche Druckfehler oder Versehen des Setzers wurden stillschweigend berichtigt.

Die bedeutsame Vorrede Wilhelm Grimms vom Jahre 1819 die auch in die Ausgabe von 1857 aufgenommen worden war, geben wir im Anhang dieses Bandes wieder; dort findet der Leser ferner Erläuterungen zu einzelnen Märchen und Worterklärungen für den gesamten Text.
Aufbau-Verlag Berlin




Die Vorrede Wilhelm Grimms vom Jahre 1819

Wir finden es wohl wenn von Sturm und anderem Unglück, das der Himmel schickt, eine ganze Saat zu Boden geschlagen wird, daß noch bei niedrigen Hecken oder Sträuchern, die am Wege stehen, ein kleiner Platz sich gesichert hat und einzelne Ähren aufrecht geblieben sind. Scheint dann die Sonne wieder günstig, so wachsen sie einsam und unbeachtet fort: keine frühe Sichel schneidet sie für die großen Vorratskammern, aber im Spätsommer/ wenn sie reif und voll geworden, kommen arme Hände, die sie suchen, und Ähre an Ähre gelegt, sorgfältig gebunden und höher geachtet als sonst ganze Garben, werden sie heimgetragen, und winterlang sind sie Nahrung, vielleicht auch der einzige Samen für die Zukunft.
So ist es uns vorgekommen, wenn wir gesehen haben, wie von so vielem, was in früherer Zeit geblüht hat, nichts mehr übriggeblieben, selbst die Erinnerung daran fast ganz verloren war, als unter dem Volke Lieder, ein paar Bücher, Sagen und diese unschuldigen Hausmärchen. Die Plätze am Ofen, der Küchenherd, Bodentreppen, Feiertage noch gefeiert, Triften und Wälder in ihrer Stille, vor allem die ungetrübte Phantasie sind die Hecken gewesen, die sie gesichert und einer Zeit aus der ändern überliefert haben.

Es war vielleicht gerade Zeit, diese Märchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewahren sollen, immer seltner werden. Freilich, die sie noch wissen, wissen gemeinlich auch recht viel, weil die Menschen ihnen absterben, sie nicht den Menschen; aber die Sitte selber nimmt immer mehr ab, wie alle heimlichen Plätze in Wohnungen und Gärten, die vom Großvater bis zum Enkel fortdauerten, dem stetigen Wechsel einer leeren Prächtigkeit weichen, die dem Lächeln gleicht, womit man von diesen Hausmärchen spricht, welches vornehm aussieht und doch wenig kostet. Wo sie noch da sind, leben sie so,daß man nicht daran denkt, ob sie gut oder schlecht sind, poetisch oder für gescheite Leute abgeschmackt; man weiß sie und liebt sie, weil man sie eben so empfangen hat, und freut sich daran, ohne einen Grund dafür. So herrlich ist lebendige Sitte, ja auch das hat die Poesie mit allem Unvergänglichen gemein, daß man ihr selbst gegen einen ändern Willen geneigt sein muß. Leicht wird man übrigens bemerken, daß sie nur da gehaftet hat, wo überhaupt eine regere Empfänglichkeit für Poesie oder eine noch nicht von den Verkehrtheiten des Lebens ausgelöschte Phantasie vorhanden war. Wir wollen in gleichem Sinne diese Märchen nicht rühmen oder gar gegen eine entgegengesetzte Meinung verteidigen; ihr bloßes Dasein reicht hin, sie zu schützen. Was so mannigfach und immer wieder von neuem erfreut, bewegt und belehrt hat, das trägt seine Notwendigkeit in sich und ist gewiß aus jener ewigen Quelle gekommen, die alles Leben betaut, und wenn es auch nur ein einziger Tropfen wäre, den ein kleines, zusammenhaltendes Blatt gefaßt hat, so schimmert er doch in dem ersten Morgenrot.

Darum geht innerlich durch diese Dichtungen jene Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen: sie haben gleichsam dieselben blaulichweißen, makellosen, glänzenden Augen
(* In die sich Kinder selbst so gern greifen (Fischarts Gargantua 129 b, 131b) und die sie sich holen möchten., die nicht mehr wachsen können, während die ändern Glieder noch zart, schwach und zum Dienste der Erde ungeschickt sind. Das ist der Grund, warum wir durch unsere Sammlung nicht bloß der Geschichte der Poesie und Mythologie einen Dienst erweisen wollten, sondern es zugleich Absicht war, daß die Poesie selbst, die darin lebendig ist, wirke und erfreue, wen sie erfreuen kann, also auch, daß es als ein Erziehungsbuch diene. Wir suchen für ein solches nicht jene Reinheit, die durch ein ängstliches Ausscheiden dessen, was Bezug auf gewisse Zustände .und Verhältnisse hat, wie sie täglich vorkommen und auf keine Weise verborgen bleiben können, erlangt wird und wobei man zugleich in der Täuschung ist, daß, was in einem gedruckten Buche ausführbar, es auch im wirklichen Leben sei. Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit einer geraden, nichts Unrechtes im Rückhalt bergenden Erzählung. Dabei haben wir jeden für das Kinderalter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage sorgfältig gelöscht.

Sollte man dennoch einzuwenden haben, daß Eltern eins und das andere in Verlegenheit setze und ihnen anstößig vorkomme, so daß sie das Buch Kindern nicht geradezu in die Hände geben wollten, so mag für einzelne Fälle die Sorge begründet sein, und sie können dann leicht eine Auswahl treffen; im ganzen, das heißt für einen gesunden Zustand, ist sie gewiß unnötig. Nichts besser kann uns verteidigen als die Natur selber, welche diese Blumen und Blätter in solcher Farbe und Gestalt hat wachsen lassen; wem sie nicht zuträglich sind nach besonderen Bedürfnissen, der kann nicht fordern, daß sie deshalb anders gefärbt und geschnitten werden sollen. Oder auch, Regen und Tau fällt als eine Wohltat für alles herab, was auf der Erde steht, wer seine Pflanzen nicht hineinzustellen getraut, weil sie zu empfindlich sind und Schaden nehmen könnten, sondern sie lieber in der Stube mit abgeschrecktem Wasser begießt, wird doch nicht verlangen, daß Regen und Tau darum ausbleiben sollen. Gedeihlich aber kann alles werden, was natürlich ist, und danach sollen wir trachten, übrigens wissen wir kein gesundes und kräftiges Buch, welches das Volk erbaut hat, wenn wir die Bibel obenan stellen, wo solche Bedenklichkeiten nicht in ungleich größerem Maß einträten; der rechte Gebrauch aber findet nichts Böses heraus, sondern, wie ein schönes Wort sagt, ein Zeugnis unseres Herzens. Kinder deuten ohne Furcht in die Sterne, während andere, nach dem Volksglauben, die Engel damit beleidigen.

Gesammelt haben wir an diesen Märchen seit etwa dreizehn Jahren, der erste Band, welcher im Jahre 1812 erschien, enthielt meist, was wir nach und nach in Hessen, in den Main- und Kinziggegenden der Grafschaft Hanau, wo wir her sind, von mündlichen Überlieferungen aufgefaßt hatten. Der zweite Band wurde im Jahre 1814 beendigt und kam schneller zustande, teils, weil das Buch selbst sich Freunde verschafft hatte, die es nun, wo sie bestimmt sahen, was und wie es gemeint war, unterstützten, teils, weil uns das Glück begünstigte, das Zufall scheint, aber gewöhnlich beharrlichen und fleißigen Sammlern beisteht. Ist man erst gewöhnt, auf dergleichen zu achten, so begegnet es doch häufiger, als man sonst glaubt, und das ist überhaupt mit Sitten und Eigentümlichkeiten, Sprüchen und Scherzen des Volkes der Fall. Die schönen plattdeutschen Märchen aus dem Fürstentum Münster und Paderborn verdanken wir besonderer Güte und Freundschaft; das Zutrauliche der Mundart bei der Innern Vollständigkeit zeigt sich hier besonders günstig. Dort, in den altberühmten Gegenden deutscher Freiheit, haben sich an manchen Orten die Sagen und Märchen als eine fast regelmäßige Vergnügung der Feiertage erhalten, und das Land ist noch reich an ererbten Gebräuchen und Liedern. Da, wo die Schrift teils noch nicht durch Einführung des Fremden stört oder durch Überladung abstumpft teils weil sie sichert, dem Gedächtnis noch nicht nachlässig zu werden gestattet, überhaupt bei Völkern, deren Literatur unbedeutend ist pflegt sich als Ersatz die Überlieferung stärker und ungetrübter zu zeigen. So scheint auch Niedersachsen mehr als alle andere Gegenden behalten zu haben. Was für eine viel vollständigere und innerlich reichere Sammlung wäre im fünfzehnten Jahrhundert oder auch noch im sechzehnten zu Hans Sachsens und Fischarts Zeiten in Deutschland möglich gewesen.*

Einer jener guten Zufälle aber war es, daß wir aus dem bei Kassel gelegenen Dorfe Niederzwehm eine Bäuerin kennenlernten, die uns die meisten und schönsten Märchen des zweiten Bandes erzählte. Die Frau Viehmännin war noch rüstig und nicht viel über fünfzig Jahre alt. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Festes, Verständiges und Angenehmes, und aus großen Augen blickte sie hell und scharf.** Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedächtnis und sagte wohl selbst, daß diese Gabe nicht jedem verliehen sei und mancher gar nichts im Zusammenhange behalten könne. Dabei erzählte sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig, mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Übung nachschreiben konnte. Manches ist auf diese Weise wörtlich beibehalten und wird in seiner Wahrheit nicht zu verkennen sein. Wer an leichte Verfälschung der Überlieferung, Nachlässigkeit bei Aufbewahrung und daher an Unmöglichkeit langer Dauer als Regel glaubt, der hätte hören müssen, wie genau sie immer bei der Erzählung blieb und auf ihre Richtigkeit
* Merkwürdig ist, daß bei den Galliern nicht erlaubt war, die überlieferten Gesänge aufzuschreiben, während man sich der Schrift in allen übrigen Angelegenheiten bediente. Cäsar, der dies anmerkt (De bello Gallico, IV, 4), glaubt, daß man damit habe verhüten wollen, im Vertrauen auf die Schrift leichtsinnig im Erlernen und Behalten der Lieder zu werden. Auch Thamus hält dem Theuth (im "Phädrus" des Plato) bei Erfindung der Buchstaben den Nachteil vor, den die Schrift auf die Ausbildung des Gedächtnisses haben würde.

** Unser Bruder Ludwig Grimm hat eine recht ähnliche und natürliche Zeichnung von ihr radiert, die man in der Sammlung seiner Blätter (bei Weigel in Leipzig) findet. Durch den Krieg geriet die gute Frau in Elend und Unglück, das wohltätige Menschen lindern, aber nicht heben konnten. Der Vater ihrer zahlreichen Enkel starb am Nervenfieber, die Waisen brachten Krankheit und die höchste Not in ihre schon arme Hütte. Sie ward siech und starb am 17. November 1816. Sie änderte niemals bei einer Wiederholung etwas in der Sache ab und besserte ein Versehen, sobald sie es bemerkte, mitten in der Rede gleich selber. Die Anhänglichkeit an das überlieferte ist bei Menschen, die in gleicher Lebensart unabänderlich fortfahren, stärker, als wir, zur Veränderung geneigt, begreifen. Eben darum hat es, so vielfach bewährt, eine gewisse eindringliche Nähe und innere Tüchtigkeit, zu der anderes, das äußerlich viel glänzender erscheinen kann, nicht so leicht gelangt. Der epische Grund der Volksdichtung gleicht dem durch die ganze Natur in mannigfachen Abstufungen verbreiteten Grün, das sättigt und sänftigt, ohne je zu ermüden.
Wir erhielten außer den Märchen des zweiten Bandes auch reichliche Nachträge zu dem ersten und bessere Erzählungen vieler dort gelieferten und gleichfalls aus jener oder ändern ähnlichen Quellen. Hessen hat. als ein bergichtes, von großen Heerstraßen abseits liegendes und zunächst mit dem Ackerbau beschäftigtes Land den Vorteil, daß es alte Sitten und Überlieferungen besser aufbewahren kann. Ein gewisser Ernst, eine gesunde, tüchtige und tapfere Gesinnung, die von der Geschichte nicht wird unbeachtet bleiben, selbst die große und schöne Gestalt der Männer in den Gegenden, wo der eigentliche Sitz der Chatten war, haben sich auf diese Art erhalten und lassen den Mangel an dem Bequemen und Zierlichen, den man im Gegensatz zu ändern Ländern, etwa aus Sachsen kommend, leicht bemerkt, eher als einen Gewinn betrachten. Dann empfindet man auch, daß die zwar rauheren, aber oft ausgezeichnet herrlichen Gegenden, wie eine gewisse Strenge und Dürftigkeit der Lebensweise, zu dem Ganzen gehören, überhaupt müssen die Hessen zu den Völkern unseres Väterlandes gezählt werden, die am meisten, wie die alten Wohnsitze, so auch die Eigentümlichkeit ihres Wesens durch die Veränderung der Zeit festgehalten haben.

Was wir nun bisher für unsere Sammlung gewonnen hatten, wollten wir bei dieser zweiten Auflage dem Buch einverleiben. Daher ist der erste Band fast ganz umgearbeitet, das Unvollständige ergänzt, manches einfacher und reiner erzählt, und nicht viel Stücke werden sich finden, die nicht in besserer Gestalt erscheinen. Es ist noch einmal geprüft, was verdächtig schien, das heißt, was etwa hätte fremden Ursprungs oder durch Zusätze verfälscht sein können, und dann alles ausgeschieden. Dafür sind die neuen Stücke, worunter wir auch Beiträge aus Ostreich und Deutschböhmen zählen, eingerückt, so daß man manches bisher ganz Unbekannte finden wird Für die Anmerkungen war uns früher nur ein enger Raum gegeben bei dem erweiterten Urnfange des Buchs konnten wir für jene nun einen eigenen dritten Band bestimmen. Hierdurch ist es möglich creworden/ nicht nur das, was wir früher ungern zurückbehielten, mitzuteilen, sondern auch neue, hierher gehörige Abschnitte zu liefern die, wie wir hoffen, den wissenschaftlichen Wert dieser Überlieferungen noch deutlicher machen werden.
Was die Weise betrifft, in der wir hier gesammelt haben, so ist es uns zuerst auf Treue und Wahrheit angekommen. Wir haben nämlich aus eigenen Mitteln nichts hinzugesetzt, keinen Umstand und Zug der Sage selbst verschönert, sondern ihren Inhalt so wiedergegeben, wie wir ihn empfangen hatten; daß der Ausdruck und die Ausführung des einzelnen großenteils von uns herrührt, versteht sich von selbst, doch haben wir jede Eigentümlichkeit, die wir bemerkten, zu erhalten gesucht, um auch in dieser Hinsicht der Sammlung die Mannigfaltigkeit der Natur zu lassen.

Jeder, der sich mit ähnlicher Arbeit befaßt, wird es übrigens begreifen, daß dies kein sorgloses und unachtsames Auffassen kann genannt werden, im Gegenteil ist Aufmerksamkeit und ein Takt nötig, der sich erst mit der Zeit erwirbt/ um das Einfachere, Reinere und doch in sich Vollkommnere von dem Verfälschten zu unterscheiden. Verschiedene Erzählungen haben wir, sobald sie sich ergänzten und zu ihrer Vereinigung keine Widersprüche wegzuschneiden waren, als eine mitgeteilt, wenn sie aber abwichen, wo dann jede gewöhnlich ihre eigentümlichen Züge hatte, der besten den Vorzug gegeben und die ändern für die Anmerkungen aufbewahrt. Diese Abweichungen nämlich erschienen uns merkwürdiger als denen, welche darin bloß Abänderungen und Entstellungen eines einmal dagewesenen Urbildes sehen, da es im Gegenteil vielleicht nur Versuche sind, einem im Geist bloß vorhandenen, unerschöpflichen, auf mannigfachen Wegen sich zu nähern. Wiederholungen einzelner Sätze, Züge und Einleitungen sind wie epische Zeilen zu betrachten, die, sobald der Ton sich rührt, der sie anschlägt, immer wiederkehren, und in einem ändern Sinne eigentlich nicht zu verstehen.
Eine entschiedene Mundart haben wir gerne beibehalten. Hätte es überall geschehen können, so würde die Erzählung ohne Zweifel gewonnen haben. Es ist hier ein Fall, wo die erlangte Bildung, Feinheit und Kunst der Sprache zuschanden wird und man fühlt/ dass eine geläuterte Schriftsprache, so gewandt sie in allem übrigen sein mag, heller und durchsichtiger, aber auch schmackloser geworden ist und nicht mehr so fest dem Kerne sich anschließt. Schade, daß die niederhessische Mundart in der Nähe von Kassel, als in den Grenzpunkten des alten sächsischen und fränkischen Hessengaues, eine unbestimmte und nicht reinlich aufzufassende Mischung von Niedersächsischem und Hochdeutschem ist.

In diesem Sinne gibt es unsers Wissens sonst keine Sammlungen von Märchen in Deutschland. Entweder waren es nur ein paar zufällig erhaltene, die man mitteilte, oder man betrachtete sie bloß als rohen Stoff, um größere Erzählungen daraus zu bilden. Gegen solche Bearbeitungen erklären wir uns geradezu. Zwar ist es unbezweifelt, daß in allem lebendigen Gefühl für eine Dichtung ein poetisches Bilden und Fortbilden liegt, ohne welches auch eine Überlieferung etwas Unfruchtbares und Abgestorbenes wäre, ja eben dies ist mit Ursache, warum jede Gegend nach ihrer Eigentümlichkeit, jeder Mund anders erzählt. Aber es ist doch ein großer Unterschied zwischen jenem halb unbewußten, dem stillen Forttreiben der Pflanzen ähnlichen und von der unmittelbaren Lebensquelle getränkten Einfalten und einer absichtlichen, alles nach Willkür zusammenknüpfenden und auch wohl leimenden Umänderung; diese aber ist es, welche wir nicht billigen können. Die einzige Richtschnur wäre dann die von seiner Bildung abhängende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, während bei jenem natürlichen Fortbilden der Geist des Volkes in dem einzelnen waltet und einem besondern Gelüsten vorzudringen nicht erlaubt.

Räumt man den Überlieferungen wissenschaftlichen Wert ein, das heißt, gibt man zu, daß sich in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst, daß dieser Wert durch solche Bearbeitungen fast immer zugrunde gerichtet wird. Allein, die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn wo lebt sie wirklich als da, wo sie die Seele trinkt, wo sie in der Tat kühlt und erfrischt oder wärmt und stärkt? Aber jede Bearbeitung dieser Sagen, welche ihre Einfachheit, Unschuld und prunklose Reinheit wegnimmt, reißt sie aus dem Kreise, welchem sie angehören und wo sie ohne Überdruß immer wieder begehrt werden. Es kann sein, und dies ist der beste Fall, daß man Feinheit, Geist, besonders Witz, der die Lächerlichkeit der Zeit mit hineinzieht, ein zartes Ausmalen des Gefühls, wie es einer von der Poesie aller Völker genährten Bildung nicht allzu schwer fällt, dafür gibt; aber diese Gabe hat doch mehr Schimmer als Nutzen, sie denkt an das einmalige Anhören oder Lesen/ an das sich unsere Zeit gewöhnt hat, und sammelt und spitzt dafür die Reize. Doch in der Wiederholung ermüdet uns der Witz, und das Dauernde ist etwas Ruhiges, Stilles und Reines. Die geübte Hand solcher Bearbeitungen gleicht doch jener unglücklich begabten, die alles, was sie anrührte, auch die Speisen, in Gold verwandelte, und kann uns mitten im Reichtum nicht sättigen und tränken. Gar, wo aus bloßer Einbildungskraft die Mythologie mit ihren Bildern soll angeschafft werden, wie kahl, innerlich leer und gestaltlos sieht dann trotz den besten und stärksten Worten alles aus l übrigens ist dies nur gegen sogenannte Bearbeitungen gesagt, welche die Märchen zu verschönern und poetischer auszustatten vorhaben, nicht gegen ein freies Auffassen derselben zu eignen, ganz der Zeit angehörenden Dichtungen; denn wer hätte Lust, der Poesie Grenzen abzustecken?

Wir übergeben dies Buch wohlwollenden Händen, dabei denken wir an die segnende Kraft, die in ihnen liegt, und wünschen, daß denen, welche diese Brosamen der Poesie Armen und Genügsamen nicht gönnen, es gänzlich verborgen bleiben möge.
Kassel, am 3. Julius 1819




Quelle:

"Märchen"
Gebrüder Grimm
Textrevision und Anmerkungen von Therese Erler
Berechtigte Ausgabe für den buchclub 65, Berlin 1966 Alle Rechte vorbehalten
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
Printed in Germany .
Lizenz-Nr. 301. 120/127/66
Einband Erika Raußendorf
Satz VEB Offizin Andersen Nexö in Leipzig IIV18/38
Druck Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30