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"Geschichten aus der einen und der anderen Tasche"


Karel Capek

Das letzte Gericht


Der berüchtigte vielfache, durch mehrere Steckbriefe und eine ganze Armee von Gendarmen und Detektiven gesuchte Mörder Kugler erklärte, man würde ihn nicht fangen, und man fing ihn auch nicht, zumindest nicht lebendig. Die letzte, insgesamt neunte seiner Mordtaten war, daß er den Gendarmen, der ihn verhaften wollte, erschoß. Den Gendarmen tötete er zwar, aber ihn selbst trafen sieben Kugeln, von denen drei bereits den Tod herbeiführten. Auf diese Weise entging er der irdischen Gerechtigkeit.
Sein Tod trat so rasch ein, daß er gar keine Zeit fand, Schmerzen zu empfinden. Als seine Seele dem Körper entwich, hätte sie über die Wunder jener Welt, die außerhalb des Weltenraumes liegt, staunen können, über eine graue und endlos wüste Welt, aber sie staunte nicht. Ein Mensch, der sogar schon in Amerika hinter Kerkermauern gesessen hat, sieht in jener Welt höchstens eine andere, neue Umgebung, in der man sich mit ein wenig Wagemut genau wie woanders durchschlägt.
Schließlich fand sich Kugler vor dem unausweichlichen Weltgericht. Und da für den Himmel eine außerordentliche Verfassung gilt, kam er vor das Oberste Gericht und nicht vor die Geschworenen, wie er es nach seinen Taten eigentlich erwartet hatte.

Der Gerichtssaal war schlicht gehalten, so wie auf der Erde; aus naheliegenden Gründen stand da ein Kreuz, vor dem die Zeugen den Schwur ablegen mußten. Vier Richter, durchaus alte, verdiente Räte mit strengen, verdrießlichen Gesichtern waren anwesend, die Formalitäten irgendwie langweilig: Kugler, Ferdinand, arbeitslos, am Soundsovielten geboren, gestorben . . . Und da zeigte sich, dass Kugler seinen Sterbetag nicht wußte; er merkte sofort, dass ihm diese Vergeßlichkeit in den Augen des Gerichts schadete, deshalb war er halsstarrig.
"Wodurch haben Sie sich schuldig gemacht?" fragte der Vorsitzende.
"Durch nichts", antwortete Kugler verstockt. "Rufen Sie den Zeugen herein", seufzte der Vorsitzende. Kugler gegenüber ließ sich ein stattlicher, geradezu imposanter Greis nieder, der einen blauen, mit goldenen Sternen besäten Umhang trug; bei seinem Erscheinen hatten sich die Richter erhoben, auch Kugler war gegen seinen Willen aufgestanden, wie verzaubert. Erst als sich der Alte niedergesetzt hatte, nahmen auch die Richter ihre Plätze wieder ein.
Der Vorsitzende begann: "Zeuge Gott der Allwissende, dieses letzte Oberste Gericht hat Sie gebeten, Zeugnis in Sachen Kugler, Ferdinand, abzulegen. Als der Höchste, Wahrheitsliebende brauchen Sie nicht zu schwören. Wir ersuchen Sie nur im Interesse der Verhandlung, sich kurz und an die Begebenheiten zu halten und nicht abzuschweifen auf Dinge, die nicht ungesetzlichen Charakter tragen. Und Sie, Kugler, unterbrechen Sie den Zeugen nicht. Er weiß alles, Ihr Leugnen wäre unnütz. Ich bitte den Zeugen auszusagen."

Nach diesen einleitenden Worten stützte der Vorsitzende seine Ellbogen bequem auf den Tisch, nahm die goldumrandete Brille ab, um sich auf eine längere Zeugenaussage vorzubereiten. Der älteste Richter setzte sich zurecht, um ein Schläfchen zu halten. Der schriftführende Engel schlug das Lebensbuch auf.
"Ja, Kugler, Ferdinand. Ferdinand Kugler, Sohn eines Fabrikbeamten, war von klein auf ein ungeratenes Kind; du Bursche, du hast die Menschen was geärgert! Die Mutter liebte er sehr, doch er schämte sich, das zu zeigen, deshalb war er ungehorsam und bockbeinig. Erinnerst du dich, wie du deinen Vater in den Daumen gebissen hast, als er dich verhauen wollte? Du hattest im Garten vom Notar Rosen gestohlen."
"Die Rosen "waren für die Irma vom Steueramt bestimmt", entsann sich Kugler.
"Ich weiß", sagte Gott. "Das Mädchen war sieben Jahre alt. Und weißt du auch, was aus ihr geworden ist?"
"Nein" "Sie heiratete Oskar, den Sohn des Fabrikanten; die Ehe war unglücklich, sie starb an einer Fehlgeburt. Erinnerst du dich an Rudi Zarubek?"
"Was ist aus ihm geworden?"
"Ja, mein Lieber, der ging zu den Matrosen und kam in Bombay um. Ihr beide wart die ärgsten Buben in der ganzen Stadt. Kugler, Ferdinand stahl schon mit zehn Jahren und log ständig; er verkehrte in schlechter Gesellschaft, er gab sich mit dem Säufer und Tagedieb Diabola ab, mit dem er sein Essen teilte."

Der Richter winkte ab, das gehöre nicht hierher; aber Kugler erkundigte sich neugierig: "Und was ist aus dessen Tochter geworden?"
"Aus der Marie?" fragte Gott, "sie ist entartet, verkaufte sich mit vierzehn Jahren und starb als Zwanzigjährige; auf dem Sterbebett gedachte 'sie deiner. Als Vierzehnjähriger warst du schon dem Trunk ergeben und liefst aus dem Hause. Dein Vater kam vor Gram um, und deine Mutter weinte sich die Augen aus; du hast dein Elternhaus entehrt, und für deine Schwester Martha, für dieses liebe, zarte Geschöpf, fand sich kein Bräutigam, der in das Haus eines Diebes eingeheiratet hätte. Sie lebt noch, einsam und in Not, von dem, was ihr mildtätige Menschen zukommen lassen." "Was macht sie jetzt?"
"Sie steht soeben bei Vicek im Laden und kauft Zwirn, um bis zum Dunkelwerden nähen zu können. Erinnerst du dich an das Geschäft? Du hast dort einmal eine kleine durchsichtige Glaskugel erstanden, da warst du sechs Jahre alt; und schon am selben Tag ist sie dir abhanden gekommen,und du konntest sie nie mehr wiederfinden. Erinnerst du dich noch, wie du vor Leid und Zorn geweint hast?" "Wohin ist damals diese Kugel gerollt?" fragte Ferdinand begierig. "In den Abfluß bei der Dachrinne. Ja, seit dreißig Jahren liegt sie an der gleichen Stelle, und es regnet soeben auf der Erde, und diese Glaskugel bewegt sich durch das einströmende Wasser hin und her."

Kugler senkte überwältigt den Kopf. Der Vorsitzende nahm die Brille auf die Nase und mahnte friedlich: "Zeuge, wir müssen zur Sache sprechen. Hat der Angeklagte einen Mord begangen?"
Gott, der Zeuge, bewegte nur sein Haupt. "Neun Menschen hat er getötet. Den ersten bei einer Rauferei. Dafür wurde er im Gefängnis verdorben. Als zweites tötete er seine ungetreue Geliebte. Dafür wurde er zum Tode verurteilt, aber er entfloh. Der dritte war ein alter Mann, den er beraubte. Der vierte war ein Nachtwächter." "Der starb ?" schrie Kugler dazwischen. "Binnen drei Tagen", erwiderte Gott, "unter entsetzlichen Qualen, er hinterließ sechs Kinder. Fünftens und sechstens war es ein altes Ehepaar; er erschlug es und erbeutete sechzehn Kronen, dabei hatten die Alten über zwanzigtausend
versteckt."
Kugler sprang hoch. "Und wo versteckt?" "Im Strohsack", entgegnete Gott. "In einem leinenen Beutel unter dem Strohsack lag das Geld, das sie durch Geiz und Wucher zusammengerafft hatten. Den siebenten Menschen tötete er in Amerika; es war ein Einwanderer, hilflos wie ein Kind, ein Landsmann."
"Also im Strohsack war es", flüsterte Kugler.
"Jawohl", fuhr der Zeuge fort. "Der achte war ein Fußgänger, der Kogler in den Weg lief, als man ihn verfolgte.
Damals hatte er eine Knochenhautentzündung und litt unter furchtbaren Schmerzen. Ja, du hast allerhand auszustehen gehabt. Der letzte war der Gendarm." "Weshalb hat er gemordet?" fragte der Vorsitzende.

"Aus dem gleichen Grunde, aus dem es die andern tun", erwiderte Gott, "aus Zorn, aus Sucht nach Geld, vorsätzlich oder zufällig, manchmal aus Leidenschaft, ein andermal aus Notwehr. Er war freigebig und half vielen Menschen. Er war anständig zu Frauen, liebte die Tiere und hielt sein Wort. Soll ich seine guten Taten aufzählen?"
"Danke", sagte der Vorsitzende, "das ist nicht nötig. Angeklagter, haben Sie zu Ihrer Entlastung etwas zu. sagen?"
"Nein", entgegnete Kugler gleichgültig; denn nun war ihm alles einerlei.
"Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück", verkündete der Vorsitzende, worauf sich die Richter entfernten. Gott und Kugler blieben im Gerichtssaal. "Wer sind diese?" fragte Kugler, mit dem Kopf auf die sich entfernenden Richter deutend.
"Menschen wie du", sagte Gott. "Sie waren auf der Erde Richter, nun richten sie hier." Kugler nagte an seinen Fingern. "Ich nahm an ... das heißt, ich habe mich nicht darum gekümmert, aber . . . ich erwartete, daß Sie richten würden, Sie als ... als . . ." "Als Gott", half der Alte nach. "Das ist es ja eben, versteh mich recht. Weil ich allwissend bin, kann ich nicht das Amt eines Richters ausüben. Das ginge nicht. Weißt du, Kugler, übrigens, wer dich damals angezeigt hat?"
"Nein", sagte Kugler überrascht.
"Luck, die Kellnerin, sie tat es aus Eifersucht."

"Entschuldigen Sie", lächelte Kugler, "aber Sie haben vergessen zu erwähnen, daß ich in Chikago diesen Taugenichts Teddy erschossen habe." "Aber woher denn", entgegnete Gott, "der hat sich wieder erholt und ist gesund. Ich weiß, er war ein Angeber, aber
sonst ein guter Mensch und ein Kinderfreund. Denke ja nicht, daß Menschen nur schlecht sind."
"Warum . . . warum richtest du nicht selbst, Gott?" fragte Kugler versonnen.
"Weil ich alles weiß. Wenn die Richter alles, aber auch alles wüßten, könnten sie nicht so urteilen; sie würden alles verstehen, bis ihnen das Herz davon bräche. Wie sollte ich über dich richten? Die Richter kennen nur deine Gewalttaten. Ich aber weiß alles von dir. Alles, Kugler. Und deshalb kann ich dich nicht richten."
"Und weshalb richten . . . die Menschen . . . auch im Himmel?"
"Weil der Mensch zu den Menschen gehört. Du siehst, ich bin nur Zeuge; über die Strafe entscheiden Menschen - auch im Himmel. Glaube mir, Kugler, so ist es auch am besten; die Menschen verdienen keine andere als nur menschliche Gerechtigkeit."
In diesem Augenblick trat der Vorsitzende des Obersten Gerichts ein und verkündete mit lauter Stimme: "Kugler, Ferdinand, wird wegen neunmal wiederholten vorsätzlichen Mordes, Totschlags und Raubes, für diverse Vergehen wie ungesetzmäßiges Tragen von Waffen und für Rosendiebstahl verurteilt, und zwar zu lebenslänglicher Haft in der Hölle. Die Strafe hat er sofort anzutreten. Bitte, der nächste. Ist der Angeklagte Machat, Franz, hier?"


Quelle:

"Geschichten aus der einen und der anderen Tasche"
Karel Capek
Povidky z. jedne kapsy
Povidky z druhe kapsy
Aus dem Tschechischen übersetzt
von Grete Ebner-Eschenhaym
Geschichten aus der einen und der anderen Tasche
Alle Rechte vorbehalten
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5. Auflage
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