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"Die vergreiste Gesellschaft "


Ein Szenario
von Wolfgang Sofsky


...Nicht ohne Wehmut kehren die früheren Bewohner zu den Stätten ihrer Kindheit zurück, suchen in der Einöde nach Überresten, bis die Erinnerung schwindet und sie die Frage vergessen haben, wer sie sind und woher sie kommen. ...


Die Kindergärten sind geschlossen, viele Schulen stehen leer, einige wurden noch rechtzeitig mit Altersheimen zusammengelegt. Einmal in der Woche kommt jede Klasse auf Besuch. Die meisten Lehrer wurden zu Betreuern umgeschult. Lebenslanges Lernen propagiert die Obrigkeit, damit die arbeitslosen Pädagogen und ihre betagten Zöglinge beschäftigt sind. Die Jungen und Begabteren haben das Land jedoch längst verlassen. In den Hörsälen der Universitäten sieht man nur noch graue Köpfe. Auch mit altem Hirn kann man noch sinnen über Dasein und Zeitvergehen, über den Stand der Ruhe, über die Welt, die man immer weniger versteht.

Wird irgendwo ein Kind geboren, eilen die Alten herbei, um das seltene Fest der Geburt zu feiern. Wertvolle Gaben bringen sie mit, Geld und Geschenke, für das Kind und seine Eltern. Begeistert lauschen sie dem Geschrei des Babys. Ein neuer Kult der Kindheit hat seit einiger Zeit um sich gegriffen. Je weniger Nachkömmlinge, desto höher ihr Rang. Der Säugling verspricht die Zukunft, welche die Gesellschaft hinter sich hat.

Der Streit der Generationen ist seit langem entschieden. Die Jungen haben vor der Mehrheit kapituliert. Vor kurzem hat das Durchschnittsalter der Bevölkerung die Sechzig überschritten. Um so starrköpfiger klammern sich die Langlebigen an den Mythos vom "jungen Alten". Fit und flott sei der Greis von heute, aktiv, weltoffen und neugierig. Die Falten geglättet, das Gebiß gebleicht, das Hüftgelenk ausgewechselt, durcheilt er die schöne neue Seniorenwelt. Körperliche Gebrechen kennt er nicht, seine Sinne schwinden nicht, sein Hirn verblödet nicht. So starrt die Gesellschaft auf das Trugbild der ewigen Jugend, während sich ihre Reihen zusehends lichten.

In der Großstadt bewegen sich die Menschen langsamer als früher. Mit dem Alter werden die Straßen länger und die Beine kürzer. Ohrenbetäubend ist der Krach, auf bunten Schildern sind riesige Buchstaben angebracht. Wenn Auge und Ohr zu versagen beginnen, müssen die Aufschriften vergrößert und die Lautsprecher an den Straßenecken auf Maximum gestellt werden. Manche Passanten tragen eine Weste, die mit einem Satelliten verbunden ist. So gehen sie nicht verloren. Die Dreiräder haben einen kleinen Hilfsmotor, die Automobile verfügen über ausgeklügelte Sensor- und Navigationssysteme. Der betagte Fahrer braucht sich nur noch in die Kabine zu setzen, den Rest erledigt die Automatik. Bei Gefahr im Verzug schlägt das künstliche Auge Alarm und bremst das Fahrzeug selbständig ab.

Die Industrie hat den Trend frühzeitig erkannt. Spielzeugfirmen haben ihr Sortiment auf den senilen Kunden umgestellt. Die Nachfrage nach Treppenliften, Bandagen, Beatmungsgeräten, Schnabeltassen und pürierter Nahrung hält sich auf hohem Niveau. Der Markt für Handys und Telefone mit breiten Tasten ist weitgehend gesättigt. Dafür zählen Roboterhunde mit eingebauter Wachfunktion, Streichelfell und programmierbarem Gejaule zu den Verkaufsschlagern der Saison.

In den Fabrikhallen hat man - der Not gehorchend - die Produktion weitgehend automatisiert. Die Belegschaften sind überaltert, Personal ist knapp, aber an den neuen Arbeitssitzen am Band sind ohnehin nur Roboter zu überwachen, die sich die meiste Zeit selbst steuern. Hier haben auch ein paar 70jährige ihr Auskommen gefunden. Die Gewerkschaften sind in den Betrieben kaum mehr vertreten. Sie verstehen sich als Anwalt der Pensionäre und nicht der Erwerbstätigen. Über drei Viertel ihrer Mitglieder haben bereits das Rentenalter erreicht.

In den Chefetagen regieren mittlerweile nur noch Greise. In Wirtschaft und Politik gelten die Gesetze der Gerontokratie. Wer lange genug einer Firma oder Partei angehört, erwirbt einen Anspruch auf einen höheren Posten. Alte herrschen über Jung und Alt. Sie haben allein das Wohl und die Stimmen der Senioren im Auge. An künftige Generationen denkt niemand mehr. So einfallsreich die Gesellschaft bei der Erfindung technischer Hilfsmittel ist, so unbeweglich ist die Macht, die sie beherrscht. Auch in der Not bleibt stets alles beim Alten.

Die vergreiste Gesellschaft ist zum Aussterben verurteilt. Immer rascher nimmt die Bevölkerung ab. Ganze Regionen entvölkern sich, Häuser verfallen, Immobilien sind zu Spottpreisen erhältlich. In manchen Kleinstädten gibt es kaum mehr Geschäfte. Die Öffnungszeiten sind auf ein paar Stunden reduziert. Den Tagesbedarf liefern private Hilfsdienste, die sich diesen Service teuer bezahlen lassen. Hier und da ist der Rückbau der Wohnviertel schon abgeschlossen. Ortschaften mit über tausendjähriger Geschichte sind von der Landkarte verschwunden. Nicht ohne Wehmut kehren die früheren Bewohner zu den Stätten ihrer Kindheit zurück, suchen in der Einöde nach Überresten, bis die Erinnerung schwindet und sie die Frage vergessen haben, wer sie sind und woher sie kommen.

In den alten Kurorten wurden schon vor Jahren die ersten Residenzen errichtet. Golfplätze hat man angelegt; Bungalowsiedlungen mit hohen Zäunen umfaßt, die von Hundestreifen bewacht werden. Betuchte Senioren verbringen ihre späten Tage zwischen Schönheitsfarmen, Badeparadiesen und Wellness-Oasen. Mit Geld stirbt es sich bequemer. Alteingesessene nennen diese Idylle auf der grünen Wiese respektlos "Pflegezoo". Im Ortskern haben sich Sanitätshäuser angesiedelt, barrierefreie Cafés, ein Revitalisierungszentrum und mehrere Bestattungsinstitute. Auch Hotels für die Angehörigen hat man nicht vergessen. Wo einst der kleine Dorffriedhof lag, erstreckt sich heute ein weites Gräberfeld.

Etwas abseits, in den alten Sanatorien sind die Armen und Kranken untergebracht. Hermetisch abgeschirmt sind diese Massenquartiere. Ihre Insassen sind aus der Öffentlichkeit verschwunden. Die Betreuer sind dürftig bezahlt, mäßig ausgebildet und ständig überfordert. Kaum können sie den Mindeststandard der Altenpflege einhalten: die Hinfälligen warm, satt und trocken zu halten. Da die Sozialkassen ihre Zahlungen halbiert haben, ist für den größten Teil der Bevölkerung das Alter nichts als ein Fluch. Rasch sind die kargen Ersparnisse aufgezehrt. Vor dem Tod sind mitnichten alle gleich. Alter heißt für die allermeisten Armut, Gebrechlichkeit, Siechtum. Auf den Krankenstationen der Heime finden keine Operationen mehr statt. In Vier- oder Sechsbettzimmern wird hier gestorben. Es kursiert das Gerücht, dass hinter den Mauern nicht wenige vor der Zeit zu Tode kommen.


Wolfgang Sofsky, Soziologe, Politologe und Autor, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte u.a.: 'Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager' (1993), 'Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung - Koalition' (mit Rainer Paris, 1994) und 'Traktat über die Gewalt' (1996). 2002 erschien 'Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg', und zuletzt der Band 'Operation Freiheit. Der Krieg im Irak'.


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DeutschlandRadio Berlin - 12. Januar 2004

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