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Abschied vom Paradies


"Gartenkunst in Europa"
Vom Villengarten der italienischen Renaissance
bis zum englischen Landschaftsgarten


Mit der Geschichte ist es wie mit einem großen, wild gewachsenen Wald. Damit ein Betrachter, ein Spaziergänger, ein Naturfreund nicht nur ein dichtes Gestrüpp und ein schier undurchdringliches Wirrwarr von ganz beliebig scheinenden Zufälligkeiten vorfindet, bedarf es der Kraft und der Anstrengung des kultivierenden Geistes.

Man muß Wege, Alleen und Schneisen bahnen, Lichtungen und Freiräume anlegen und, wenn sich die Dinge gut zueinander fügen, nach Möglichkeit auch übergreifende Perspektiven schaffen. Gärten hat es zu jeder Zeit gegeben: bei Semiramis, den Griechen, im Mittelalter, bis heute. Daß in der Renaissance und im Barock auf einmal etwas ganz Neues und vorher nie Dagewesenes stattgefunden haben soll, wird einem die Geschichte nicht bestätigen. Für sie gibt es immer ein Davor und ein Danach. Daß plötzlich eine neue Idee entsteht und diese Idee die Wirklichkeit auf eine - trotz aller Anklänge und Anleihen - innovative Weise ihrem Wesen nach umgestaltet, ist dem um seine Wirrnis bangenden Wald ebenso ungeheuer wie der auf Kontinuität bedachten Geschichte. Aber es hilft nichts. Wenn man im Garten der Vergangenheit lustwandeln will, muß der Wald seine Bäume lassen. Und es können mitunter viele Bäume sein, von denen einige zu seinen schönsten Exemplaren gehören.

Ein solcher Ansatz mag manchem Zeitgenossen als die höchste Form rationalistischer Roheit erscheinen. In Zeiten, wo ein Baum als Baum eine fast sakrale Größe ist, erscheint jeder Eingriff in die Natur als ein Vergehen, das nur zu rechtfertigen ist, insofern es der Natur dazu verhilft, noch intensiver und reiner in ihr Eigentliches zu kommen, verstanden als ein dem menschlichen Planen und Eingreifen entgegengesetzter, aus sich heraus lebender Bereich. Das Abholzen gesunder Bäume und ein der Kunst dienendes Beschneiden von Hecken und Büschen wirkt von einem solchen Naturverständnis her wie eine kaum mehr nachvollziehbare Verirrung des Geistes. Wie aber kann es dann noch möglich sein, heute durch einen barocken Garten zu gehen, ohne dabei zugleich Schmerz und Abscheu zu empfinden?

Es gibt zwei Wege. Der erste ist naheliegend und wird am häufigsten gewählt: Man nimmt am Vergangenen nur das Gegenwärtige wahr und genießt von der Natur lediglich das, was auch in ihrer entstelltesten Erscheinungsform den
eigenen Vorstellungen entspricht: die Blumenpracht der Zierbeete, die Farbenvielfalt, herrliche Bäume sowie die weiten Spaziergänge in reiner Luft und stadtentrückter Ferne. Der Landschaftsgarten des
17. und 18. Jahrhunderts wird so zu einem öffentlichen Park, in dem die nach Entlastung strebende Subjektivität den Zwängen der von Technik beherrschten Zivilisation zu entkommen versucht. Aufgrund ihrer bürgerlichen Grundstruktur gelingt es dieser Subjektivität, die Strenge der barocken Anlagen durchaus noch mit dem eigenen Ordnungssinn in Einklang zu bringen. Eine wirkliche Bewunderung stellt sich aber erst in den englischen Gärten ein, in denen der Schein von Natürlichkeit das Kalkül des Arrangements übersehen läßt und man sich ohne Gewissensbisse dem Gefühl der Ursprünglichkeit hingeben kann. Wirklich bei sich ist das Subjekt jedoch erst in den größeren Waldpartien, jenseits aller Ansichten und Perspektiven. Dort empfindet der Zeitgenosse das Eingebettetsein in die Unüberschaubarkeit. Er fühlt sich unbeobachtet und angesichts einer sich gleichgültig gegen ihn verhaltenden Vegetation zu sich selbst entlassen.

Der zweite Weg ist weniger unmittelbar. Er versucht nicht, die Geschichte zu umgehen. Zugleich aber ist er nicht bereit, das Sein der Ideen lediglich aus ihrer historischen Bedingtheit heraus zu entwickeln. Diese beiden Prämissen vertragen sich jedoch nur schwer miteinander. Ihr Widerspruch liegt in dem Anspruch, einen Punkt der Vergangenheit erkennen und dabei dennoch ahistorisch bleiben zu wollen. So leicht, wie man es sich vorstellen mag, entledigt man sich aber nicht der Geschichte. Das ist hier auch nicht das Anliegen. Die Naivität des ersten Weges bestand ja gerade in der Annahme, man könne ohne weitere Anstrengung in die Gärten der Renaissance oder des Barock gelangen. Seine Gewißheit bestand in der Überzeugung: Der Wald ist der Wald, gleichgültig wann oder wo. Solchen Tautologien sei hier mißtraut, weil sie sich nur scheinbar der Zeit entziehen und nicht bemerken, wie sich ihnen bei einer vermeinten Allgemeingültigkeit die Idee der eigenen Gegenwart entzieht. "Ahistorizität" ist nicht mit Unbestimmtheit" gleichzusetzen. Ideen sind keine übergreifenden Leerformeln oder wohlklingenden Floskeln, sondern konkrete Gestalten des Seins, die sehr bestimmt und voneinander unterschieden gedacht werden müssen.

Deshalb sei die erste Einsicht des zweiten Weges: Der Wald ist nicht der Wald, ein Baum nicht ein Baum, Natur kein ewiger, dem Subjekt zu allen Zeiten gegenüberstehender Inbegriff einer aus sich heraus lebenden Objektivität.
Es ist also zunächst die Negation, die das unreflektierte Verzehren der Vergangenheit zu einem Stillstand bringt. Das ist, so einfach er erscheinen mag, ein wichtiger Schritt, der aber noch nicht vor dem Versinken in bloß "geschichtlichen" Betrachtungen bewahrt. Will man den Entstehungspunkt einer Idee lokalisieren, muß man auch diese nur erst formalen Erwägungen überwinden, sich auf die Ebene der Ideen selbst begeben und diese miteinander in Wettstreit treten lassen. Um die gesuchte Idee der Entstehung des Renaissancegartens auszumachen, bedarf es einer doppelten Annäherung. Es verhält sich damit wie in der Geometrie. Der Punkt auf einer Geraden ist von zwei Seiten her zu erreichen. In unserem Fall ist die Gerade die Linearität der Zeit, die Geschichte. Aber so wie der Punkt niemals Teil der Geraden ist, ist die Idee niemals Teil der Geschichte. Eine Idee ist nur durch eine andere Idee zu bestimmen. Dadurch wird sie "klar" und "deutlich". Doch erst indem sie auf der Zeitgeraden nach zwei Seiten hin unterschieden wird, gewinnt sie ihre ahistorisch-zeitliche Dimension.

Der Titel "Abschied vom Paradies" versucht, auf diese doppelte Annäherung hinzuweisen. Sie sollte nicht nur aus der Vergangenheit und also geschichtlich geschehen, sondern ebenso aus der Gegenwart heraus. Erst dadurch kommt das Ahistorische der Idee in den Blick. Eine der vielfach möglichen Paradiesvorstellungen der Gegenwart ist oben bereits angedeutet worden. Es ist der "Wald", der "Park", die "Landschaft" als der ideelle Ort subjektiver Rekreativität: eben die Natur. Die Photographie ist das vielleicht geeignetste Medium, um diesen Vorstellungen Ausdruck zu verleihen, weil es dabei weniger um das Sein als vielmehr um das Vorstellen paradiesischer Zustände geht. Die Vorstellungskraft bedarf keiner realen Vorlagen, um tätig zu werden. Sie begnügt sich mit punktuellen Stimulanzien, wenn diese nur auf vielfältige Weise "verheißungsvoll" wirken. Das liefert die Photographie besser als jedes moderne Gemälde, weil sie so realitätsnah ideelle Vorstellungen wie Sonne, Grün, Freiheit und Natürlichkeit zu einem Bild vereinen kann.


Quelle:

"Gartenkunst in Europa"
Vom Villengarten der italienischen Renaissance
bis zum englischen Landschaftsgarten

Torsten Olaf Enge & Carl Friedrich Schröer

Fotografien:
Martin Claßen & Hans Wiesenhofer
Originalausgabe
© 1990 Benedikt Taschen Verlag GmbH & Co. KG
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Redaktion und Produktion: Rolf Taschen, Uta Klotz, Köln
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Farbreproduktionen: ReproColor, Bocholt
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Montagen: Artcolor, Hamm
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ISBN 3-8228-0402-9