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"DER JUNGE KÖNIG"


Oskar Wilde

1891


Oscar Fingal O'Flabertie Wills Wilde (1856 - 1900) wurde in Dublin als Sohn eines Arztes und Archäologen und der irischen Patriotin und Schriftstellerin Lady Jane Francesco Wilde geboren, studierte in Dublin und Oxford klassische Sprachen, Literatur und Philosophie, wurde der führende Vertreter des l'art-poir-l'art- Ästhetentums in England. Seine sozialen Märchen gehören der Weltliteratur an.
Er schrieb außerordentlich erfolgreiche Gesellschaftskomödien, in französischer Sprache das einaktige Drama "Salome", das Richard Strauß vertonte, das Drama "Das Bildnis des Dorian Gray", Essays, Gedichte ("Die Ballade vom Zuchthaus Reading") und Bekenntnisbücher ("De Profundis"). "Der junge König" ist dem Band"Das Granatapfelhaus" (1891) entnommen.


Es war am Vorabend seines Krönungstages, und der junge König saß allein in seinem schönen Gemach. Seine Höflinge hatten sich alle von ihm verabschiedet, wobei sie nach dem Zeremoniell der Zeit die Häupter bis zur Erde neigten, und waren in die Große Halle des Palastes zurückgegangen, um ein paar letzte Unterweisungen vom Professor für Etikette entgegenzunehmen ; gab es doch einige unter ihnen, die noch ein ganz natürliches Benehmen zeigten, und das ist, wie ich kaum zu erwähnen brauche, bei einem Höfling ein sehr schweres Vergehen.
Der Jüngling - denn er war noch ein Jüngling, da er erst sechzehn Jahre zählte -, bedauerte nicht, daß sie gingen; mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung hatte er sich auf die weichen Kissen seines mit Stickereien geschmückten Ruhebettes zurückgeworfen, wo er mit wilden Augen und offenem Mund wie ein brauner Waldfaun dalag oder wie ein junges Tier aus dem Forst, das eben erst den Jägern in die Falle gegangen ist.
Und wirklich waren es Jäger gewesen, die ihn gefunden hatten, fast zufällig auf ihn gestoßen waren, als er barfüßig, die Flöte in der Hand, hinter der Herde des armen Ziegenhirten herging, der ihn großgezogen und für dessen Sohn er sich immer gehalten hatte. Er war das Kind der einzigen Tochter des alten Königs aus einer heimlichen Ehe mit einem tief unter ihr stehenden Mann - einem Fremdling, sagten einige, der die Liebe der jungen Prinzessin durch den wunderbaren Zauber seines Lautenspiels gewonnen hatte, während andere von einem Künstler aus Rimini sprachen, dem die Prinzessin viel, vielleicht zuviel Ehre erwiesen und der plötzlich aus der Stadt verschwand und sein Werk im Dom unvollendet zurückließ. Erst eine Woche alt, war der Knabe von der Seite seiner schlafenden Mutter weggestohlen und einem einfachen Bauern und seinem Weib in Pflege gegeben worden, die selbst kinderlos waren und in einem entlegenen Teil des Waldes lebten, weiter als eine Tagereise zu Pferd von der Stadt entfernt.

Gram oder die Pest, wie der Hofarzt feststellte, oder, wie etliche munkelten, ein rasch wirkendes italienisches Gift, das man ihr in einem Becher würzigen Weins einflößte, tötete das blasse Mädchen, das ihn geboren hatte, binnen einer Stunde nach seinem Erwachen, und als der verlässliche Bote, der das Kind auf dem Sattelbogen trug, von seinem müden Ross stieg und an die schlichte Tür der Hirtenhütte pochte, wurde der Leichnam der Prinzessin in ein offenes Grab gesenkt, das man auf einem verlassenen Kirchhof jenseits der Stadtmauer gegraben hatte, ein Grab, in dem, wie es hieß, schon ein anderer Leichnam ruhte, der eines jungen Mannes von wunderbarer, fremdartiger Schönheit, dem man die Hände mit einem verknoteten Strick auf dem Rücken zusammengebunden und die Brust mit vielen roten Wunden bedeckt hatte.
So ging wenigstens das Gerücht, das die Menschen einander zuraunten. Fest stand, daß der alte König, als er auf dem Sterbebett lag - entweder, weil ihn seine große Sünde reute oder auch nur, weil er wünschte, daß das Königreich in seiner Linie bleiben sollte -, nach dem Jüngling gesandt und ihn in Gegenwart des Rates als seinen Erben anerkannt hatte. Und es scheint, daß sich vom ersten Augenblick seiner Anerkennung an jene seltsame Leidenschaft für Schönheit bei ihm offenbarte, die einen so großen Einfluss auf sein Leben ausüben sollte. Diejenigen, die ihn nach der Zimmerflucht begleiteten, die ihm vorbehalten war, erwähnten oft den Freudenschrei, der seinen Lippen entfuhr, als er das herrliche Gewand und kostbare Geschmeide sah, das für ihn bereitlag, und die fast wilde Lust, mit der er sein raues Lederwams und den groben Schaffellmantel von sich schleuderte.

Bisweilen freilich vermißte er die köstliche Freiheit seines Waldlebens, und er war immer leicht gereizt über das langweilige Hofzeremoniell, das jeden Tag so viel Zeit in Anspruch nahm, aber der wundervolle Palast - Joyeuse nannte man ihn -, dessen Herr er jetzt war, schien ihm eine neue Welt, die eigens zu seiner Lust geschaffen war, und sobald er vom Ratstisch oder Audienzsaal fliehen konnte, lief er die große Freitreppe hinab mit ihren Löwen aus vergoldeter Bronze und ihren Stufen aus glänzendem Porphyr und wanderte von einem Saal in den anderen und von einem Gang in den anderen, wie jemand, der in der Schönheit Linderung für den Schmerz, eine Art Genesung vom Kranksein sucht.
Auf diesen Entdeckungsfahrten, wie er sie nannte - und sie waren für ihn wirkliche Reisen durch ein wundervolles Land, begleiteten ihn manchmal die schlanken, blondhaarigen Hofpagen mit ihren wehenden Mänteln und lustig flatternden Bändern; aber noch öfter war er allein, denn mit sicherem, feinem Instinkt, der fast einer Eingebung glich, fühlte er, daß die Geheimnisse der Kunst sich am besten im geheimen offenbaren und Schönheit wie Weisheit die lieben, die sie in Einsamkeit verehren.

Manch seltsame Geschichte wurde damals über ihn verbreitet. Man erzählte sich, daß ein würdiger Bürgermeister, der gekommen war, um im Namen der Bürger seiner Stadt eine salbungsvolle Ansprache zu halten, seiner ansichtig geworden war, wie er in wahrer Anbetung vor einem großen Bild kniete, das man gerade aus Venedig gebracht hatte und das den Dienst neuer Götter anzukünden schien. Ein andermal wurde er etliche Stunden vermißt, und nach langem Suchen entdeckte man ihn in einem Kämmerchen in einem der kleinen nach Norden schauenden Türme des Palastes, wie er ganz verzückt eine griechische Gemme mit der eingeschnittenen Gestalt des Adonis anstarrte. Man hatte ihn beobachtet, so wurde erzählt, wie er seine warmen Lippen auf die Marmorstirn einer antiken Statue drückte, die beim Bau der steinernen Brücke im Flußbett gefunden worden war und den Namen des bithynischen Sklaven Hadrians als Inschrift trug. Er hatte eine ganze Nacht damit verbracht, die Wirkung des Mondlichts auf ein Silberbildnis des Endymion zu beobachten.

Alles Seltene und Kostbare übte zweifellos einen starken Zauber auf ihn aus, und in dem Verlangen, es sich zu verschaffen, hatte er viele Kaufleute ausgesandt, etliche, um bei dem rauen Fischervolk der Nordmeere Bernstein einzuhandeln, etliche nach Ägypten, um die merkwürdigen grünen Türkise zu suchen, die man nur in Königsgräbern findet und die Zauberkräfte besitzen sollen, etliche nach Persien, um seidene Teppiche und bemaltes Tongeschirr zu erwerben, und andere nach Indien, um Schleierstoff zu kaufen und getöntes Elfenbein, Mondsteine und Jade-Armbänder, Sandelholz und blaue Emaillen und Tücher aus feiner Wolle.
Aber was ihn am meisten beschäftigt hatte, war das Gewand, das er bei seiner Krönung tragen sollte, der Mantel aus gewobenem Gold, die mit Rubinen besetzte Krone und das Zepter mit seinen Perlenreihen und -ringen. Eben daran dachte er auch heute abend, als er sich auf seinem prächtigen Lager zurücklehnte und auf das große Tannenscheit schaute, das im offenen Kamin verglühte. Die Entwürfe von der Hand der berühmtesten Künstler der Zeit waren ihm schon vor vielen Monaten vorgelegt worden, und er hatte befohlen, daß die Handwerker Tag und Nacht an ihrer Ausführung arbeiten sollten und daß man die ganze Welt nach Juwelen durchforschte, die ihrer Arbeit würdig wären. Er sah sich schon im Geist am Hochaltar des Domes stehen in dem strahlenden Schmuck eines Königs, und ein Lächeln umspielte seinen kindlichen Mund, verweilte und ließ seine dunklen Waldaugen in hellem Glanz aufleuchten.

Nach einiger Zeit erhob er sich von seinem Lager, lehnte sich gegen den gemeißelten Mantel des Kamins und blickte sich in dem schwach erleuchteten Gemach um. An den Wänden hingen kostbare Teppiche, die den Triumph der Schönheit darstellten. Ein großer Schrank mit Achat- und Lapislazuli-Einlagen füllte die eine Ecke aus, und dem Fenster gegenüber stand ein merkwürdig gearbeiteter Kabinettschrank in Lackarbeit mit Goldpulverstreuung und Goldmosaiken, und darauf befanden sich edle venezianische Gläser und ein Kelch aus dunkel geädertem Onyx. Blasse Mohnblumen waren auf die seidene Bettdecke gestickt, als ob sie den müden Händen des Schlafes entfallen wären, und schlanke Schäfte aus kanneliertem Elfenbein trugen den samtenen Baldachin, von dem große Büschel Straußenfedern wie weißer Schaum zu dem bleichen Silber des Gitterwerkes der Decke aufsprangen. Ein lachender Narziss aus grüner Bronze hielt einen geschliffenen Spiegel über den Kopf. Auf dem Tisch stand eine flache Schale aus Amethyst. Draußen konnte er die riesige Kuppel des Domes sehen, die wie eine Blase die verschwommenen Häuser überragte, und die müden Schildwachen, die auf der nebeligen Terrasse am Fluss auf und ab schritten. Weit weg schlug eine Nachtigall in einem Obstgarten. Ein zarter Jasminduft kam durch das offene Fenster. Er strich sich die braunen Locken aus der Stirn, nahm eine Laute und ließ die Finger über die Saiten gleiten.

Die schweren Lider senkten sich, und eine seltsame Mattigkeit überfiel ihn. Nie vorher hatte er so inbrünstig oder mit so köstlicher Freude den Zauber und das Geheimnis schöner Dinge empfunden. Als die Mitternacht vom Glockenturme schlug, klingelte er, und seine Pagen kamen herein und entkleideten ihn mit viel Förmlichkeit, gössen ihm Rosenwasser über die Hände und streuten Blumen auf sein Kissen. Wenige Augenblicke, nachdem sie das Zimmer verlassen hatten, schlief er ein. Und als er schlief, träumte er einen Traum, und dies war sein Traum: Es war ihm, als stände er in einer langen, niedrigen Dachstube inmitten vieler surrender, klappernder Webstühle. Das spärliche Tageslicht blickte durch die vergitterten Fenster und zeigte ihm die hageren Gestalten der Weber, die sich über ihre Rahmen beugten. Bleiche, kränklich aussehende Kinder hockten auf den mächtigen Querbalken. Wenn die Schiffchen durch die Kette sausten, hoben sie die schweren Laden, und wenn die Schiffchen aussetzten, fielen die Laden und schlugen die Fäden zusammen. Ihre Gesichter waren abgezehrt, und die dünnen Hände bebten und zitterten. Einige hagere Frauen saßen an einem Tisch und nähten. Ein schrecklicher Geruch erfüllte den Raum. Die Luft war verbraucht und drückend, und die Wände trieften und strömten vor Feuchtigkeit.

Der junge König trat zu einem Weber, blieb neben ihm stehen und sah ihm zu. Und der Weber blickte ihn böse an und sagte: "Warum siehst du mir zu? Bist du ein Spitzel, den unser Herr auf uns gehetzt hat?" "Wer ist dein Herr?" fragte der junge König. "Unser Herr?" rief der Weber bitter. "Er ist ein Mensch wie ich. Es gibt wahrhaftig nur einen Unterschied zwischen uns - daß er schöne Kleider trägt, während ich in Lumpen gehe, und daß er viel unter seiner Völlerei leidet, während ich schwach vor Hunger bin." "Das Land ist frei", sprach der junge König, "und du bist keines Menschen Sklave." "Im Krieg", antwortete der Weber, "macht der Starke den Schwachen zum Sklaven, und im Frieden macht der Reiche den Armen zum Sklaven. Wir müssen arbeiten, um zu leben, und sie geben uns so kärglichen Lohn, daß wir sterben. Wir placken uns den lieben, langen Tag, und sie füllen ihre Truhen mit Gold. Unsere Kinder welken vor der Zeit dahin, und die Gesichter derer, die wir lieben, werden hart und böse. Wir keltern die Trauben, und andere trinken den Wein. Wir säen das Korn, und unser Tisch ist leer. Wir tragen Ketten, wenn sie auch kein Auge sieht, und sind Sklaven, wenn uns auch die Menschen frei nennen."

"Geht es allen so?" fragte er. "Es geht allen so", antwortete der Weber, "den Jungen wie den Alten, den Frauen wie den Männern, den kleinen Kindern wie denen, die vom Alter gebeugt sind.
Die Kaufleute schinden uns, und wir müssen tun, was sie uns heißen. Der Priester reitet vorüber und betet seinen Rosenkranz, um uns aber kümmert sich niemand. Durch unsere sonnenlosen Gassen kriecht die Armut mit hungrigen Augen, und die Sünde mit aufgedunsenem Gesicht folgt ihr auf den Fersen. Der Jammer weckt uns am Morgen, und die Schande wacht nachts bei uns. Aber was bedeuten dir diese Dinge? Du gehörst nicht zu uns. Dein Gesicht ist zu glücklich." Und er wandte sich finster ab und warf das Schiffchen durch den Webstuhl, und der junge König sah, daß ein Goldfaden darauf gespult war. Und ihn packte ein großer Schrecken, und er sprach zu dem Weber: "Was für ein Gewand webst du da?" "Das Krönungsgewand des jungen Königs", antwortete er, "was bedeutet das schon für dich?" Und der junge König stieß einen lauten Schrei aus und erwachte, und siehe! Er war in seinem eigenen Gemach, und durch das Fenster sah er den großen honigfarbenen Mond in der dämmerigen Luft hängen.

Und er schlief wieder ein und träumte, und dies war sein Traum:
Es war ihm, als läge er auf dem Deck einer riesigen Galeere, die von hundert Sklaven gerudert wurde. Auf einem Teppich neben ihm saß der Herr der Galeere. Er war schwarz wie Ebenholz, und sein Turban war aus dunkelroter Seide. Große Silberringe zogen die dicken Ohrläppchen herunter, und in den Händen hielt er eine Waage aus Elfenbein. Die Sklaven waren nackt bis auf einen zerlumpten Lendenschurz, und jeder Mann war an seinen Nachbarn gekettet. Die Sonnenglut prallte grell auf sie herab, und die Neger rannten das Gangbord hin und her und schlugen mit Lederpeitschen auf sie ein. Sie streckten die mageren Arme aus und zogen die schweren Riemen durch das Wasser. Salziger Gischt spritzte von den Blättern.
Schließlich erreichten sie eine kleine Bucht und begannen zu loten. Ein leichter Wind blies von der Küste und überzog das Deck und das große Lateinsegel mit feinem, rotem Staub. Drei Araber kamen auf wilden Eseln geritten und warfen Speere nach ihnen. Der Herr der Galeere nahm einen bemalten Bogen in die Hand und schoß einen von ihnen durch die Kehle. Er fiel schwer in die Brandung, und seine Gefährten sprengten davon. Eine Frau, die ein gelber Schleier verhüllte, folgte langsam auf einem Kamel und schaute dann und wann nach dem Leichnam zurück.
Sobald sie Anker geworfen und das Segel eingeholt hatten, gingen die Neger in den Laderaum hinab und holten eine lange Strickleiter herauf, die mit Blei beschwert war. Der Herr der Galeere warf sie über Bord und befestigte die Enden an zwei eisernen Pfosten.

Dann packten die Neger den jüngsten Sklaven, schlugen ihm die Fesseln ab, verstopften ihm Nase und Ohren mit Wachs und banden ihm einen schweren Stein um die Hüften. Er kroch müde die Leiter hinab und verschwand im Meer. Ein paar Blasen stiegen dort auf, wo er versank. Von den anderen Sklaven schauten einige neugierig über Bord. Am Bug der Galeere saß ein Haifischbeschwörer und schlug eintönig eine Trommel.
Nach einiger Zeit kam der Taucher wieder hoch aus dem Wasser und klammerte sich keuchend an der Leiter fest, in der rechten Hand hielt er eine Perle. Die Neger entrissen sie ihm und stießen ihn zurück. Die Sklaven schliefen über den Riemen ein. Immer wieder tauchte er auf, und jedes Mal brachte er eine schöne Perle mit. Der Herr der Galeere wog sie und steckte sie in ein Beutelchen aus grünem Leder. Der junge König versuchte zu sprechen, aber die Zunge schien ihm am Gaumen zu kleben, und seine Lippen versagten den Dienst. Die Neger schwatzten miteinander und fingen an, sich über eine Kette glänzender Glasperlen zu streiten. Zwei Kraniche umflogen das Schiff.

Dann kam der Taucher ein letztes Mal empor, und die Perle, die er mitbrachte, war schöner als alle Perlen des Ormuzd, denn sie war wie der Vollmond geformt und weißer als der Morgenstern. Aber sein Gesicht war merkwürdig blass, und als er auf das Deck fiel, strömte ihm Blut aus Nase und Ohren. Er zitterte ein Weilchen, und dann war er still. Die Neger zuckten die Achseln und warfen die Leiche über Bord. Und der Herr der Galeere lachte, streckte die Hand aus und nahm die Perle, und als er sie sah, drückte er sie an die Stirn und verneigte sich. "Sie soll", so sprach er, "für das Zepter des jungen Königs sein", und er gab den Negern ein Zeichen, den Anker zu lichten. Und als der junge König das hörte, stieß er einen lauten Schrei aus und erwachte, und durch das Fenster sah er die langen grauen Finger der Dämmerung nach den verblassenden Sternen greifen.

Und er schlief wieder ein und träumte, und dies war sein Traum: Es war ihm, als wanderte er durch einen finsteren Wald, in dem seltsame Früchte und schöne, giftige Blumen hingen. Nattern zischten ihn an, als er vorüberging, und leuchtende Papageien flogen kreischend von Zweig zu Zweig. Riesige Schildkröten lagen schlafend im heißen Schlamm. Die Bäume waren voller Affen und Papageien. Immer weiter ging er, bis er an den Saum des Waldes kam, und dort sah er eine ungeheure Menschenmenge in einem ausgetrockneten Flußbett arbeiten. Sie wimmelten in dem Kies und Sand wie die Ameisen. Sie gruben tiefe Schächte in den Boden und stiegen hinein. Manche spalteten den Grund mit mächtigen Äxten, andere tappten im Sande herum. Sie rissen den Kaktus mit den Wurzeln heraus und zertraten die scharlachroten Blüten. Sie eilten hin und her, riefen einander zu, und keiner war müßig. Aus einer dunklen Höhle beobachteten sie der Tod und die Habsucht, und der Tod sagte: "Ich bin müde, gib mir ein Dritteil von ihnen, und laß mich gehen."

Aber die Habsucht schüttelte das Haupt. "Das sind meine Knechte", antwortete sie. Und der Tod sagte zu ihr: "Was hast du in der Hand? " "Ich habe drei Getreidekörner", erwiderte sie, "was kümmert das dich?" "Gib mir eins davon", rief der Tod, "ich will es in meinen Garten pflanzen, nur eins davon, und ich will meines Weges gehen."
"Ich will dir gar nichts geben", sagte die Habsucht und verbarg die Hand in den Falten ihres Gewandes. Und der Tod lachte und nahm einen Becher und tauchte ihn in eine Wasserpfütze, und dem Becher entstieg der Schüttelfrost. Er lief durch die große Menge, und ein Dritteil blieb tot liegen. Ein kalter Nebel folgte ihm, und Wasserschlangen glitten neben ihm dahin. Und als die Habsucht sah, daß ein Dritteil der Menge tot war, schlug sie sich auf die Brust und weinte. Sie schlug sich auf den welken Busen und schrie laut: "Du hast ein Dritteil meiner Knechte erschlagen", schrie sie. "Scher dich fort! Es ist Krieg in den Bergen der Tatarei, und die Könige beider Lager rufen nach dir. Die Afghanen haben den schwarzen Ochsen geschlachtet und marschieren in die Schlacht. Sie haben mit den Speeren gegen die Schilde geschlagen und ihre eisernen Helme aufgesetzt. Was bedeutet dir mein Tal, daß du darin verweilst? Scher dich fort, und komm mir nie wieder!"

"Mitnichten", antwortete der Tod, "ehe du mir nicht ein Getreidekorn gegeben hast, gehe ich nicht." Aber die Habsucht verschloß ihre Hand und biss die Zähne aufeinander. "Ich werde dir nichts geben", murmelte sie. Und der Tod lachte und hob einen schwarzen Stein auf und warf ihn in den Wald, und aus einem Dickicht wilden Schierlings kam das Fieber in einem Flammengewand. Es schritt durch die Menge und berührte die Menschen, und jeder, den es berührte, starb. Das Gras verdorrte unter seinen Füßen, während es darüberschritt.
Und die Habsucht erbebte und streute sich Asche aufs Haupt. "Du bist grausam", rief sie, "du bist grausam. Es herrscht Hungersnot in den ummauerten Städten Indiens, und die Zisternen von Samarkand sind versiegt. Es herrscht Hungersnot in den ummauerten Städten Ägyptens, und die Heuschrecken sind aus der Wüste hereingebrochen. Der Nil hat seine Ufer nicht überschwemmt, und die Priester haben Isis und Osiris verflucht. Scher dich weg zu denen, die deiner bedürfen, und laß mir meine Knechte." "Nein", entgegnete der Tod, "ehe du mir nicht ein Getreidekorn gegeben hast, gehe ich nicht." "Ich werde dir nichts geben", sagte die Habsucht. Und der Tod lachte wieder, und er pfiff durch die Finger, und ein Weib kam durch die Luft geflogen.

"Pest" stand auf ihrer Stirn geschrieben, und ein Schwarm dürrer Geier umkreiste sie. Sie deckte das Tal mit ihren Flügeln zu, und kein Mensch blieb am Leben. Und die Habsucht floh kreischend durch den Wald, und der Tod sprang auf sein rotes Ross und ritt davon, und er ritt schneller als der Wind. Und aus dem Schlamm in der Talsohle krochen Drachen und gräßliche Wesen mit Schuppen, und die Schakale kamen über den Sand gelaufen und witterten die Luft mit ihren Nüstern. Und der junge König weinte und sagte: "Wer waren diese Männer, und wonach suchten sie?"
"Nach Rubinen für eine Königskrone", antwortete einer, der hinter ihm stand. Und der junge König schreckte auf, und als er sich umwandte, sah er einen Mann in Pilgerkleidung, der in der Hand einen silbernen Spiegel hielt. Und der junge König erbleichte und fragte: "Für welchen König?"
Und der Pilger antwortete: "Blick in diesen Spiegel, und du wirst ihn sehen." Und er blickte in den Spiegel, und als er sein eigenes Antlitz sah, stieß er einen lauten Schrei aus und erwachte, und helles Sonnenlicht strömte in das Gemach, und von den Bäumen im Garten und Park sangen die Vögel.

Und der Kämmerer und die hohen Würdenträger des Staates traten herein und huldigten ihm, und die Pagen brachten ihm das Gewand aus gewobenem Gold und legten Krone und Zepter vor ihm nieder. Und der junge König schaute sie an, und sie waren schön, ihre Schönheit übertraf alles, was er je gesehen hatte. Aber er entsann sich seiner Träume und sagte zu den Edelleuten: "Nehmt diese Dinge weg, denn ich will sie nicht tragen."
Und die Höflinge wunderten sich, und etliche lachten, denn sie glaubten, er scherze. Aber er sprach wieder zu ihnen und sagte ernst: "Nehmt diese Dinge weg, und verbergt sie vor mir.
Wenn es gleich mein Krönungstag ist, will ich sie nicht tragen. Denn auf dem Webstuhl der Sorge und von den bleichen Händen des Schmerzes ist mein Gewand gewoben worden. Es ist Blut im Herzen des Rubins und Tod im Herzen der Perle." Und er erzählte ihnen seine drei Träume.

Und als die Höflinge sie hörten, sahen sie einander an und flüsterten: "Sicherlich ist er wahnsinnig; denn was ist ein Traum anderes als ein Traum und ein Gesicht anderes als ein Gesicht. Es sind keine wirklichen Dinge, das man auf sie Acht geben müsste. Und was kümmert uns das Leben derer, die sich für uns mühen? Soll der Mensch kein Brot essen, bis er den Sämann getroffen, und keinen Wein trinken, bis er den Winzer gesprochen hat?" Und der Kämmerer sprach zu dem jungen König und sagte: "Herr, ich bitte dich, schüttele diese düsteren Gedanken ab, lege dein schönes Gewand an und setze dir diese Krone auf das Haupt. Denn wie soll das Volk wissen, daß du ein König bist, wenn du keine königlichen Gewänder hast?"
Und der junge König blickte ihn an. "Ist das wirklich so?" fragte er. "Werden sie in mir nicht den König erkennen, wenn ich keine königlichen Gewänder habe?"
"Sie werden dich nicht kennen,' Herr", rief der Kämmerer. "Ich hatte geglaubt, daß es einst Männer gab, die königlich waren", antwortete er; "aber vielleicht ist es so, wie du sagst. Und dennoch will ich dies Gewand nicht tragen, noch will ich mich mit dieser Krone krönen lassen; so, wie ich in den Palast gekommen bin, will ich aus ihm gehen."

Und er befahl allen, ihn allein zu lassen, bis auf einen Pagen, den er sich zum Gefährten erkor, einen Knaben, der ein Jahr jünger war als er selbst. Ihn behielt er zu seiner Bedienung, und als er sich in klarem Wasser gebadet hatte, öffnete er eine große bemalte Truhe und nahm das Lederwams und den groben Schafspelz heraus, die er getragen hatte, als er am Berghang die zottigen Ziegen des Hirten weidete. Das zog er an und nahm den rauen Hirtenstab in die Hand.
Und der kleine Page machte die großen blauen Augen vor Staunen weit auf und sagte lächelnd zu ihm: "Herr, ich sehe dein Gewand und dein Zepter, wo aber ist deine Krone?" Und der junge König riß einen Zweig von einem wilden Rosenbusch ab, der sich am Balkon hochrankte, und bog einen Reif daraus und setzte ihn sich aufs Haupt.
"Das soll meine Krone sein", antwortete er. Und in dieser Kleidung trat er aus seinem Gemach in die große Halle, wo die Edelleute auf ihn warteten. Und die Edelleute trieben ihren Spott mit ihm, und etliche tiefen ihm zu: "Herr, das Volk wartet auf seinen König und du zeigst ihm einen Bettler", und andere erzürnten und sagten: "Er bringt Schande über unser Land und ist nicht würdig, unser Herr zu sein." Aber er antwortete ihnen nicht ein Wort, sondern schritt weiter und ging die helle Porphyrtreppe hinab und hinaus durch das bronzene Tor und bestieg sein Ross und ritt nach dem Dom, der kleine Page aber lief neben ihm her. Und die Leute lachten und sagten: "Da reitet der Narr des Königs vorüber", und sie verhöhnten ihn. Und er zog die Zügel, hielt an und sagte: "Nicht doch! Ich bin der König." Und er erzählte ihnen seine drei Träume.

Und ein Mann trat aus der Menge und sprach voll Bitterkeit zu ihm und sagte: "Herr, weißt du nicht, daß das Leben der Armen aus dem Überfluss der Reichen kommt? Euer Prunk nährt uns, und eure Laster geben uns Brot. Für einen harten Herrn zu arbeiten, ist bitter, aber keinen Herrn zu haben, für den man arbeiten kann, ist noch bitterer. Glaubst du, die Raben werden uns speisen? Und wie willst du diese Dinge ändern? Willst du zu dem Käufer sagen: >Du sollst für soundso viel kaufen<, und zu dem Verkäufer: >Du sollst zu diesem Preis verkaufen?< Gewiss nicht. Darum geh zurück in deinen Palast, und kleide dich in Purpur und zartes Linnen. Was hast du mit uns zu tun und mit unseren Nöten?"
"Sind nicht der Reiche und der Arme Brüder?" fragte der junge König. "Ja", antwortete der Mann, "und der Name des reichen Bruders ist Kain."
Und die Augen des jungen Königs füllten sich mit Tränen, und er ritt durch das murrende Volk, und der kleine Page fürchtete sich und verließ ihn. Und als er an das große Portal des Domes kam, streckten die Soldaten ihre Hellebarden vor und sagten: "Was suchst du hier? Niemand tritt durch diese Tür ein außer dem König." Und sein Antlitz rötete sich vor Zorn, und er sagte zu ihnen: "Ich bin der König", und auf seinen Wink wurden die Hellebarden zurückgezogen, und er trat ein. Und als der alte Bischof ihn in seinem Hirtenkleid hereinkommen sah, erhob er sich verwundert von seinem Sessel, ging ihm entgegen und sprach zu ihm: "Mein Sohn, ist das der Ornat eines Königs? Und mit welcher Krone soll ich dich krönen, und welches Zepter soll ich in deine Hände legen? Fürwahr, dies sollte für dich ein Freudentag sein und nicht ein Tag der Erniedrigung."
"Soll sich die Freude mit dem schmücken, was das Leid wirkte?" fragte der junge König. Und er erzählte ihm seine drei Träume. Und als der Bischof sie gehört hatte, runzelte er die Stirn und sagte: "Mein Sohn, ich bin ein alter Mann und stehe im Winter meines Lebens, und ich weiß, daß viel Böses in der weiten Welt geschieht.

Die wilden Räuber kommen von den Bergen herab, entführen die kleinen Kinder und verkaufen sie an die Mohren. Die Löwen lauern den Karawanen auf und springen auf die Kamele. Der wilde Eber wühlt das Korn im Tale auf, und die Füchse benagen die Rebstöcke am Hügel. Seeräuber verwüsten die Meeresküste und verbrennen die Boote der Fischer und nehmen ihnen ihre Netze weg. Im Marschland leben die Aussätzigen; sie haben Hütten aus geflochtenem Ried, und niemand darf sich ihnen nähern. Die Bettler wandern durch die Städte und essen ihr Brot mit den Hunden. Kannst du diese Dinge abschaffen? Willst du den Aussätzigen zum Bettgenossen nehmen und den Bettler an deinen Tisch setzen? Wird der Löwe tun, was du von ihm heischst und der wilde Eber dir gehorchen? Ist Er, der das Elend schuf, nicht weiser als du? Daher rühme ich dich nicht um dessentwillen, was du getan hast, sondern heiße dich nach dem Palast zurück reiten, ein fröhliches Gesicht machen und die Kleidung anlegen, die einem König ziemt, und mit der goldenen Krone will ich dich krönen und das Perlenzepter in deine Hände legen. Und an deine Träume denke nicht mehr. Die Last dieser Welt ist zu groß, als daß ein Mann sie tragen könnte, und das Leid der Welt zu schwer, als daß ein Herz es dulden könnte."

"Sagst du das in diesem Haus?" fragte der junge König, und er schritt an dem Bischof vorüber, stieg die Stufen des Altars hinauf und stand vor dem Bilde Christi.
Er stand vor dem Bilde Christi, und zu seiner rechten Hand und zu seiner linken waren die geheimnisvollen goldenen Gefäße, der Kelch mit dem goldenen Wein und die Ampulle mit dem heiligen Öl. Er kniete vor dem Bilde Christi nieder, und die großen Kerzen brannten hell vor dem Juwelengeschmückten Schrein, und der Weihrauch kräuselte sich in dünnen, blauen Ringen durch den Dom. Er neigte das Haupt im Gebet, und die Priester in ihren steifen Chorröcken schlichen sich weg vom Altar.
Und plötzlich kam von der Straße her wilder Lärm, und der Adel drang ein mit gezückten Schwertern und wehenden Federbüschen und Schilden aus blankem Stahl. "Wo ist dieser Träumer?" riefen sie. "Wo ist dieser König, der sich wie ein Bettler kleidet - dieser Knabe, der Schande über unser Land bringt? Wir werden ihn erschlagen, denn er ist nicht würdig, über uns zu herrschen." Und der junge König beugte noch einmal sein Haupt und betete, und als er sein Gebet beendet hatte, stand er auf, wandte sich um und blickte sie traurig an.

Und siehe! Durch die gemalten Fenster strömte das Sonnenlicht auf ihn, und die Sonnenstrahlen woben ein zartes Gewand um ihn, und es war schöner als das Gewand, das zu seiner Freude geschaffen wurde. Der tote Stab blühte auf und trug Lilien, die weißer als Perlen waren. Der trockene Dornzweig blühte auf und trug Rosen, die röter als Rubine waren. Weißer als edle Perlen waren die Lilien, und ihre Stängel waren aus glänzendem Silber. Röter als die prächtigsten Rubine waren die Rosen, und ihre Blätter waren aus getriebenem Gold.
Er stand da in dem Gewand eines Königs, und die Türen des Juwelengeschmückten Schreins sprangen auf, und aus dem Kristall der vielstrahligen Monstranz leuchtete ein wunderbares, geheimnisvolles Licht. Er stand da in dem Gewand eines Königs, und die himmlische Herrlichkeit erfüllte den Raum, und die Heiligen in ihren geschnitzten Nischen schienen sich zu bewegen. In dem schönen Gewand eines Königs stand er vor ihnen, und aus der Orgel brauste Musik, die Trompeter bliesen auf ihren Trompeten, und die Sängerknaben sangen. Und das Volk fiel in Ehrfurcht auf die Knie, und die Edelleute steckten die Schwerter in die Scheide und huldigten ihm, und das Antlitz des Bischofs erblaßte, und seine Hände zitterten. "Ein Größerer als ich hat dich gekrönt", rief er und kniete vor ihm nieder. Und der junge König stieg vom Hochaltar herab und schritt heim durch die Menge des Volkes. Aber kein Mensch wagte, ihm ins Antlitz zu schauen, denn es glich dem Antlitz eines Engels.

Quelle:

SAMMLUNG DIETERICH - BAND 56

ENGLISCHE KURZGESCHICHTEN
VON SCOTT BIS STEVENSON

Herausgegeben und übersetzt von Ilse Hecht

DIETERICH'SCHE
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LEIPZIG

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